Sommer in Danzig - on the Road to Freedom


Sommer in Danzig - on the Road to Freedom

"Wegen Gewitter wird sich der Abflug nach Danzig auf 16.30 Uhr verschieben", entschuldigt sich die Lufthansa-Mitarbeiterin am Check-in. Das entlockt mir spontan ein seeehr breites Grinsen. "Möchten Sie einen Fensterplatz?" Das ist dann doch eine Überraschung, denn bei der Onlinereservierung war mir nur ein Mittelplatz in der vorletzten Reihe angeboten worden. Sie labelt meinen Koffer und reicht mir lächelnd die Bordkarte. "Reihe 6F, der Fensterplatz. … Ich wünsche Ihnen einen guten Flug."


Fensterplätze sind was Feines. Zum Beispiel, um die Zeit an sich vorüberziehen zu lassen. Oder zuzuschauen, wie Flugzeuge in Parkpositionen hinein- und wieder herausgezogen werden. Da auf mich heute niemand wartet – lediglich der Doorman, der mir den Schlüssel für das Apartment im Jachthafen von Danzig aushändigen soll –, genieße ich den Ausblick auf Sommerferien an der polnischen Ostsee. Mein Opa Theo wurde 1916 in Danzig, der Stadt mit dem weltberühmten Krantor, geboren. Mitten im Ersten Weltkrieg. Seitdem ist fast ein Jahrhundert vergangen. Um sich endlich einmal die Stadt anzuschauen, kommt es auf ein oder zwei Stunden Verspätung dann auch nicht mehr an.


Trotz der Verzögerung ist die Flugreise immer noch deutlich schneller als eine vergleichbare Reise mit dem Zug. Da wäre nämlich, rein theoretisch, bereits heute Morgen um 9.13 Uhr Abfahrt gewesen. Nach Berlin, wohlgemerkt. Um dort - bei meinem Glück bezüglich Reisen mit der Deutschen Bahn - den Anschlusszug an die polnische Ostsee dann auch noch zu erwischen. Was, immer noch vorausgesetzt, es hätte alles planmäßig geklappt, summa summarum zwölf Stunden gedauert hätte. Wenn ich allerdings als Maßstab die Zeit nehme, die meine kleine Pendlerseele jede Woche zwischen Frankfurt und Wiesbaden in der S-Bahn verbringt, dann sind zwölf und mehr Stunden auch nicht mehr die Welt.


Ich bewundere voller Respekt die beiden Männer, die vor mir eingecheckt haben, wie sie sich artig in das von einem bekannten Zigarettenhersteller gesponserte Reservat aus Plexiglas trollen. Da drin ist er also eingefangen, der "Duft der großen weiten Welt" des 21. Jahrhunderts. Im letzten Jahrhundert, als ich noch als Flugbegleiterin gearbeitet habe, waren Flugzeuge einfach der Länge nach in "L" und "R" aufgeteilt. "R" bedeutete "Rechts" in Flugrichtung und stand für "Raucher". Daran haben sich in der Kabine fast alle gehalten. Bis auf den herumwabernden Zigarettenqualm.


Meine Sitznachbarin in der 737 mustert interessiert mein Handy mit dem kleinen roten Cleaner. "SPD?", fragt sie amüsiert. Ich nicke. "Ich war mal bei Solidarność", zwinkert sie mir zu. Das klingt eindeutig spannender als: "Ich bin bei der Sozialdemokratie." "... aber ich musste abhauen", flüstert sie verschwörerisch, und ihr Blick schweift über die Wolkengebilde hinter der Scheibe. Vergnügt stelle ich fest, dass sich das Tauschgeschäft mit dem Fensterplatz bereits jetzt gelohnt hat.


"Ich heiße Elena", stellt sie sich vor. "Meine Tante hat neben dem Wałęsa gewohnt. Da bin ich dann irgendwann auch dabei gewesen." Ich mustere sie interessiert, doch sie rührt stirnrunzelnd in ihrer Kaffeetasse. "Das war vielleicht ein Macho", bemerkt sie abrupt und pustet kopfschüttelnd eine ergraute Locke aus der Stirn.


Die Stewardess reicht tiefgekühlten, abgepackten Apfelkuchen. "Schmeckt das?" Skeptisch stupst Elena mit ihrem Zeigefinger in die Verpackung des Teilchens. Mir gefallen ihre hellwachen Augen. "Ich hab den Männern kein Essen auf die Werft gebracht", fährt sie nach einer Pause fort. "Die Tante, ja, die hat das gemacht. … Die anderen Frauen auch. Aber ich, nee, nee. Ich hab lieber Schreibarbeit gemacht. … Essen bringen ging gar nicht."


Ich erzähle ihr, dass ich von 1980 bis 1992 als Stewardess gearbeitet habe. Sie seufzt mitleidig und streicht schweigend mit ihren feingliedrigen Händen über die knisternde Folie. "Ich bin froh, dass es Solidarność gab", versuche ich, Elena zum Weiterreden zu animieren. Doch die zuckt nur skeptisch mit den Achseln. "Profitiert haben andere", resümiert sie. "Für mich kam das alles zu spät. Jetzt bin ich Rentnerin ..." Das klingt irgendwie traurig.


Die Gewitter hätten sich verzogen, erzählt uns kurz vor der Landung der ansonsten recht einsilbige Copilot. Nur ein Regenbogen steht über der Landebahn, als wir um sechs mit der 737 am Lech-Wałęsa-Flughafen aufsetzen.



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Petra Tursky-Hartmann: Zur besonderen Verwendung
Eine Reise in die Vergangenheit meiner Familie
Paperback, 246 Seiten
ISBN-13: 9783756818334
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Erscheinungsdatum: 10.01.2023
Sprache: Deutsch
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Vielen Dank für Ihr Interesse