Litauen 2016 - eine Reise an die Memel und zurück

Die Memel – 937 Kilometer von Weißrussland über Litauen bis ans Kurische Haff und die Ostsee

„Schön, Sie zu sehen, Herr Arlauskas“, begrüße ich den älteren Herrn, der mich an diesem sonnigen Tag im August 2016 am Gartentor der „Secret Garden Boutique“ in Vilnius erwartet. Sein Handschlag ist zupackend. Schon in den Mails, die wir in den vergangenen Wochen zur Vorbereitung meiner Reise nach Litauen gewechselt hatten, habe ich den Eindruck gewonnen, dass der Major im Ruhestand – aus welchen Gründen auch immer – keine Zeit zu verlieren hat.

Vilnius, die Hauptstadt von Litauen, die Kathedrale St. Stanislaus mit dem Glockenturm
und  die Kirche des heiligen Franziskus und heiligen Bernhardin

„Kazimieras Arlauskas wird Sie vor Ort unterstützen“, hatte Viola Krause, die hessische Landesgeschäftsführerin vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, mir mitgeteilt, nachdem ich zufällig den seit 1944 vermissten Onkel meiner Mutter in der Online-Gräbersuche des Verbands gefunden hatte. Und jetzt stehe ich im „Rom des Ostens“ – dessen barocke Altstadt 1994 von der UNESCO zum Welterbe erklärt wurde – und erfahre von dem mir freundlich zugewandten Mann in sportlicher Outdoor-Jacke mehr über eine längst vergangene Zeit. „Der Onkel Ihrer Mutter ist laut unseren Unterlagen für den Soldatenfriedhof der 69. Infanteriedivision in Naukamis registriert worden“, bestätigt er und zieht ein Foto aus einer blauen Mappe, auf der das weiße Logo einer von Sternen umringten Waage prangt. Während ich an einem Glas frisch gepressten Apfelsaft nippe, telefoniert er in einer Sprache, von der ich leider kein einziges Wort verstehe. „Sie werden übermorgen Frau Saulėnienė in Schloss Panemunė treffen. Sie ist Schulleiterin in Skirsnemunė und spricht sehr gut deutsch“, nickt er zufrieden. Dann springt er unvermittelt auf. „Kommen Sie, ich möchte Ihnen Vingio-Park zeigen.“

Zentraler Gedenkplatz im Vingio-Park – Soldatenfriedhof des 
Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Vilnius

Der Stadtpark ist ein beliebter Veranstaltungsort in der litauischen Hauptstadt. Während der Perestroika traf sich hier zwischen 1989 und 1991 die sogenannte Singende Revolution. Das Scharnier des hohen schmiedeeisernen Tors zum Soldatenfriedhof quietscht, als Herr Arlauskas es aufstemmt. Er habe auch gedient, erzählt er, als wir über die frisch geharkten Kieswege zum zentralen Gedenkplatz hinauflaufen. Ausgebildet worden sei er als „Radarspezialist für die Flugabwehr der russischen Armee.“ Und dann erzählt er von seiner Arbeit für die Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Es klingt wie eine Mission. Oder eine Berufung. Dort oben sind mehr als 2.000 Namen von deutschen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg in Vilnius gefallen sind, in zwölf graue Steintafeln gemeißelt worden. Aber auch ungarische, österreichische, russische und jüdische Soldaten wurden im weitläufigen Grün hinter der Biegung der Neris begraben. Auf einem polnischen Grabstein liegen frische Steinpilze als letzten Gruß für einen Gefallenen. „Patenfriedhof der Reservisten-kameradschaft Roter Adler Lehnitz/Brandenburg“, entziffere ich auf einem verwitterten Emailleschild. Plötzlich brechen Sonnenstrahlen durch das dichte Laub der hochgewachsenen Buchen und zaubern ein stimmungsvolles Licht über das multinationale Gräberfeld.

Der geografische Mittelpunkt Europas bei Purnuškės

Es mag für einen Außenstehenden vielleicht seltsam anmuten, aber seit meine aus Schlesien geflüchtete Oma gestorben ist, verspüre ich ein unbeirrbares Bedürfnis, so etwas wie Ordnung in meinem privaten Ahnenkosmos zu schaffen. Als Kind habe ich gerne Puzzles von großen Landschaften zusammengesetzt. Nur, mein Familienpuzzle ist weitaus komplizierter. Denn einige Teile sind offensichtlich unwiederbringlich verloren gegangen. Und andere Teile passen überhaupt nicht zusammen, obwohl sie das eigentlich sollten. Und einzelne Stücke passen nur, weil man sie mit hohem Aufwand zurechtfrisiert hat, damit sie sich wieder ins Gesamtbild einfügen. Das sind leider die Teile, die mich am meisten aufregen. Aber es gibt auch farblose Elemente. Und ein rotes, aber das ist die Ausnahme. Meine Freundin Marion hat meine Sisyphusarbeit am Telefon mit den Worten „Heute hätten sicher die meisten Deutschen gerne einen Widerstandskämpfer in ihrer Familie gehabt“ gewürdigt.

Erhard Biemüller, 26.04.1923 (Hüffelsheim) bis 25.09.1944 (Raudonenai)

Der Onkel meiner Mutter ist mehr durch Zufall in den Fokus meines Privatpuzzles gerückt. Eigentlich hatte ich ja nur wissen wollen, ob meine beiden Großmütter Mitglied in der NSDAP gewesen sind. Diese Frage hatte das Bundesarchiv in Berlin im Januar 2016 verneint, aber meine Recherche habe „einen Hinweis auf einen Erhard Biemüller“ im Freiburger Militärarchiv ergeben. Das hat mich hellhörig werden lassen, denn das Geburtsdatum 26. April 1923 stimmte mit dem Datum einer kleinen vergilbten Todesanzeige – „treues Soldatenherz, Kriegsfreiwilliger, Heldentod“ – überein, welches die Elli-Oma bis zu ihrem Tod im Sommer 1998 in ihrem Schreibtisch aufbewahrt hatte.

      Soldatenfriedhof des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Kaunas (Litauen)

Vier Wochen später halte ich die Kopien einer dürren Personalakte inklusive einer grauen „Heeresbeförderungskarteikarte“ in meinen Händen. „Onkel Erhard war in Italien im Krieg“, hatte meine Mutter bis zu diesem Tag unerschütterlich reklamiert. „Onkel Erhard ist am 25. September 1944 in Raudonėnai in Litauen gefallen“, habe ich Ende Februar 2016 dementiert und ihr die Papiere aus Freiburg gereicht. Wobei ich aus den Unterlagen damals nicht erkennen konnte, ob der Onkel in Litauen beerdigt worden ist. Aber ein Oberst Wenck von der 69. Infanteriedivision hatte Erhard „aufgrund seiner klaren nationalsozialistischen Haltung“ noch posthum vom Oberfähnrich zum Leutnant befördert. Mich hat das ziemlich aufgewühlt. Denn zu dem Zeitpunkt hatten die Nationalsozialisten Europa bereits in Schutt und Asche gelegt und Millionen Menschen ermordet. Ungeachtet dessen hatte ein braver Beamter in Berlin, quasi in den letzten Atemzügen des „Dritten Reichs“, am 24. April 1945 penibel seinen Job gemacht und diese Nullachtfünfzehn-Karteikarte mit dem Vermerk „Nachträgliche Beförderung zum aktiven Offizier“ in einen der vermutlich letzten Geschäftsgänge der Wehrmacht gegeben. „Davon weiß ich nichts“, hatte meine Mutter ungläubig den Kopf geschüttelt und die Papiere keines Blickes gewürdigt. „Die haben uns nur seine Pistole zurückgeschickt“, hat sie wütend gemurmelt. „Die hat die Elli-Oma, als die Amerikaner in Bretzenheim einmarschiert sind, aber ganz schnell im Plumpsklo versenkt.“


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